Weiterlesen: Sozialepidemiologie
© ProLitteris, Josef Estermann
4.3 Die von der Repression betroffenen Konsumierenden
4.3.1 Identifikation der Fälle
Wir betrachten hier die Daten, die das Bundesamt für Polizeiwesen (BAP) auf der Grundlage des schweizerischen Betäubungsmittelgesetzes, Art. 28 Ziff. 2 und Art. 29 Ziff. 3, sammelt. Es handelt sich um sogenannte Verzeigungsdaten, die die Polizei erfaßt, wenn sie die Aufnahme eines Verfahrens wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz für angezeigt hält. Art. 29 Ziff. 3 BetmG verpflichtet die kantonalen Polizeistellen, jedes eröffnete Verfahren an die schweizerische Zentralstelle für die Bekämpfung des unerlaubten Betäubungsmittelverkehrs, deren Funktion das BAP wahrnimmt, zu melden. Diese Vorschrift existiert zur Zeit alleine für Verfahren auf Grundlage des Betäubungsmittelgesetzes. Die Meldung erfolgt unabhängig davon, ob sich das Verfahren später als unbegründet herausstellt oder nicht. Eine Anzeige führt nicht unbedingt zu einer Verurteilung. Die Analyse der Daten bezieht sich auf den Zeitraum von 1990 bis 1994. Über die zahlenmäßige Ausgestaltung der Drogenrepression auf den Ebenen Polizei, Gericht und Strafvollzug im Zeitverlauf gibt Grafik G4.3.1 Auskunft. Die massive qualitative Änderung der Drogenrepression nach dem Jahre 1990 ist augenfällig.
Diese Daten der polizeilichen Drogenrepression werden auf dem Aggregationsniveau der Anzeige, das heißt des einzelnen Verfahrens erhoben. Für capture-recapture Verfahren sind sie erst nach der Transformation auf das Niveau des Individuums und nach einer bestimmten Zeitspanne verwendbar. Diese Aggregation der Daten erfolgte in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Statistik (BFS, Simone Rônez).
Eine der zentralen Variablen bildet die Information, ob es sich um eine Person handelt, die noch nie aufgefallen ist (erstmalige Anzeige) oder aber um eine, die dem ermittelnden Beamten oder der Polizeistelle schon bekannt ist (wiederholte Anzeige). Diese Kriterien werden jedoch nicht unbedingt einheitlich gehandhabt. Es kommt zum Beispiel vor, das ein Verfahren wegen Heroinkonsums als erstmaliges registriert wird, obwohl schon eines wegen Cannabiskonsums durchgeführt worden ist. Ein gleich gelagerter Fall kann von einer anderen Polizeistelle als wiederholte Anzeige registriert werden. Dasselbe gilt für den Kategorienunterschied von Handel und Konsum. Die einzige Möglichkeit, diese Variable zu bereinigen, besteht darin, die Informationen auf der Ebene des Individuums im Zeitverlauf zu aggregieren. Dabei reduziert sich die Anzahl der in den Rohdaten als erstmalige Anzeige registrierten Verfahren beträchtlich.
Das Selektionskriterium für den bearbeiteten Datensatz ist nicht ganz unproblematisch. Es bezieht sich auf sämtliche in den Jahren 1990, 1991, 1992 1993 oder 1994 mit mindestens einem Verfahren wegen Konsums von Heroin oder Kokain belegten Personen. Für diese Personen wurden sämtliche Anzeigen auf Grundlage des BetmG aufgenommen und gezählt. Klar wird, daß sich die Daten auch für die bereits erfaßten Jahre verändern müssen, wenn zusätzliche Jahre in den Datensatz aufgenommen werden. Dies gilt besonders für die Anzahl erstmaliger Anzeigen, die sich mit dem Einbezug älterer Verzeigungsdaten entsprechend reduziert. Bei der Aufbereitung der Daten wurde Wert darauf gelegt, den Beginn des Heroin- oder Kokainkonsums korrekt zu eruieren. Wenn beispielsweise jemand im Jahre 1992 wegen Heroinkonsums wiederholt angezeigt wurde und im selben Jahr erstmals wegen Haschischkonsums, gilt 1992 als Jahr des Beginns der Konsumkarriere. Ebenso wenn beispielsweise jemand im Jahre 1991 eine Anzeige wegen Haschischhandels und -konsums hatte und im folgenden Jahr eine wiederholte Anzeige wegen Kokainkonsums. Das Problem des Datensatzes liegt unter anderem darin, daß es sich nicht mit Sicherheit feststellen läßt, auf was sich die «Wiederholung» bezieht. Häufig treten Personen auf, die in mehreren Jahren als erstmals angezeigt registriert sind. Der zu analysierende Datensatz der Verzeigten der Jahre 1990 bis 1994 enthält nach Bereinigung 36’077 Personen.
4.3.2 Darstellung des Zeitverlaufs
Grafik
Die Grafik G4.3.2 zeigt 36’000 Personen, die sich im zu analysierenden Datensatz befinden, der alle Personen enthält, gegen die in den Jahren 1990 bis 1994 die Polizei mindestens ein Verfahren wegen Konsums von Heroin oder Kokain eröffnete und dies an das Bundesamt für Polizeiwesen in Bern meldete. Das BetmG bildet die Grundlage für diese Meldepflicht. Etwa 14’000 dieser Personen waren bereits im Jahre 1989 bekannt, das heißt, sie wurden zwischen 1990 und 1994 als wiederholt auffällig angezeigt. Über 22’000 Personen existierten im Jahre 1989 noch keine Informationen. Die Polizei registrierte sie zwischen 1990 und 1994 erstmals.
Im Jahre 1990 dann wurden 4’000 Personen zum ersten Mal angezeigt und weitere 4’000 zum wiederholten Male. Etwa 10’000 wurden in späteren Jahren als bereits auffällig wiederholt angezeigt und über 18’000 lagen keine Informationen vor.
Im Jahre 1991 finden sich 5’000 neu erfaßte, bisher unbekannte Personen, 5’000 wieder erfaßte, bereits bekannte und wiederum 10’000, die in späteren Jahren als bereits auffällig verzeigt wurden (zeitweilig Passive). Weitere 3’000 sind seit 1990, also seit drei Jahren bis zum letzten verfügbaren Datensatz, nicht mehr erschienen. Dies sind Kandidatinnen und Kandidaten für echte Remission minus Verstorbene und Weggezogene. Über 14’000 Personen liegt in diesem Jahr noch keine Information vor.
Im Jahre 1992 bleibt sich die Zahl der in der Datei bekannten Personen gleich: 5’000 Erstmalige, 7’000 Rückfällige und 8’000 «zeitweilig Passive». Ein oder zwei Jahre nicht aufgetreten sind 7’000 Personen, über 9’000 Personen liegen keine Informationen vor.
1993 ist das Jahr mit der bisher höchsten Erfassungs- und Durchdringungsquote im Datensatz und zeigt 5’000 erstmalig erfaßte, 10’000 bereits bekannte, 5’000 «zeitweilig Passive» und 13’000 seit einem, zwei oder drei Jahren nicht mehr erschienene Personen. Weitere 4’000 Personen werden im nächsten Jahr das erste Mal auftreten.
Im Jahre 1994 sinkt die Zahl der erstmals Erfaßten auf 4’000, also auf den Stand von 1990. Bereits bekannt sind 11’000 erfaßte und seit einem, zwei, drei oder vier Jahren nicht mehr erschienen sind 22’000 Personen.
Die nicht mehr erschienenen Personen indizieren Remission und Tod. Immerhin 3’000 der über 7’000 Personen, die im Jahre 1990 angezeigt wurden, sind bis 1994 nicht wieder aufgetaucht. Von den Erstmaligen des Jahres 1990 sind nur 53% wieder aufgetaucht, von den bereits Bekannten sind es 66%. Von den Erstmaligen des Jahres 1991 hingegen sind 46% bis 1994 wieder angezeigt worden, von den bereits Bekannten 64%.
Es ist wichtig, die Bedeutung des Zeitverlaufs bei einer dynamischen Erfassung richtig einzuschätzen. Die Effekte der Zufügung eines Jahresdatensatzes in die Zukunft für den hier analysierten Datensatz bestehen in einer Erhöhung der Gesamtfallzahl im Datensatz um die bisher nicht bekannten, neu angezeigten Personen, in einer Erhöhung der Zahl der vorher und nachher erfaßten und in einer Senkung der Zahl der seit einem, zwei oder drei Jahren nicht mehr angezeigten Personen. Die Zufügung eines Jahresdatensatzes in die Vergangenheit hingegen bewirkt eine Erhöhung der Gesamtfallzahl um die später nicht mehr aufgetauchten Personen, eine Erhöhung der Zahl der wiederholt erfaßten und der seit Jahren aus dem Bestand ausgeschiedenen sowie eine Senkung der Zahl der erstmals erfaßten Personen. Jedes weitere Hinzufügen von Rohdaten anderer Zeitabschnitte verändert auch den hier bereits analysierten Datensatz.
Die Darstellung der Daten auf der personenaggregierten Ebene differiert wesentlich von der in der polizeilichen Kriminalstatistik üblichen Darstellung nach Anzeigen oder Akten. Die polizeiliche Darstellung bläht den Umfang der Fallzahlen auf und reagiert äußerst stark auf Veränderungen in der Erfassungsdichte. Insofern ist es zu verstehen, daß epidemiologisch nicht geschulte Interpretatorinnen und Interpretatoren aus den polizeilichen Daten im beobachteten Zeitraum eine fulminante Epidemie des Drogenkonsums ableiten zu können meinen. Bei einer additiven Zählung nach Substanz (Heroin, Kokain, Cannabisprodukte, Amphetamine, Halluzinogene, andere Substanzen) und nach Begehungsform (Handel, Konsum, Schmuggel) ist die Zahl der Verfahren ohne weiteres auf deutlich mehr als 50’000 pro Jahr aufzublähen. Die Aggregation auf das Personenniveau und die Abschätzung der Überlappung hilft beträchtlich, diesen Blickwinkel zu objektivieren.
4.3.3 Geschlecht
Die Unterrepräsentation der Frauen im Repressionsbereich ist hinlänglich bekannt. (1) Die Drogenrepression bildet dabei keine Ausnahme. Die folgende Tabelle bezieht sich auf die Frauen und Männer, die zwischen 1990 und 1994 mindestens einmal wegen Konsums von Heroin oder Kokain angezeigt wurden.
T4.3.3: Polizeilich angezeigte Personen nach Geschlecht, 1990 bis 1994.
Zwischen 1990 und 1994 wegen Konsums von Heroin oder Kokain angezeigte Personen mit Heroin- oder Kokainkonsumanzeige im angegebenen Zeitraum und bekanntem Geschlecht.
Zeitraum | Männer N | % | Frauen N | ||
1990-1994 | 28977 | 80,4 | 7073 | 19,6 | 36040 |
1990 | 5361 | 79,3 | 1396 | 20,7 | 6757 |
1991 | 7372 | 81,4 | 1682 | 18,6 | 9054 |
1992 | 9236 | 81,0 | 2161 | 19,0 | 11397 |
1993 | 11337 | 81,3 | 2601 | 18,7 | 13938 |
1994 | 10857 | 80,9 | 2555 | 19,1 | 13412 |
Zwischen 1990 und 1994 wegen Konsums von Heroin angezeigte Personen mit Heroinkonsumanzeigen im angegebenen Zeitraum und bekanntem Geschlecht (2).
Zeitraum | Männer N | % | Frauen N | ||
1990-1994 | 24770 | 79,9 | 6227 | 20,1 | 30997 |
1990 | 4409 | 78,8 | 1189 | 21,2 | 5598 |
1991 | 6379 | 81,0 | 1497 | 19,0 | 7876 |
1992 | 8182 | 80,8 | 1957 | 19,3 | 10139 |
1993 | 9996 | 81,1 | 2329 | 18,9 | 12325 |
1994 | 9461 | 80,9 | 2233 | 19,1 | 11694 |
Zwischen 1990 und 1994 wegen Konsums von Kokain angezeigte Personen mit Kokainkonsumanzeigen im angegebenen Zeitraum und bekanntem Geschlecht. (3)
Zeitraum | Männer N | % | Frauen N | ||
1990-1994 | 14659 | 80,5 | 3562 | 19,6 | 18221 |
1990 | 2733 | 79,7 | 695 | 20,3 | 3428 |
1991 | 3395 | 81,8 | 758 | 18,3 | 4153 |
1992 | 3545 | 80,4 | 865 | 19,6 | 4410 |
1993 | 4585 | 80,3 | 1125 | 19,7 | 5710 |
1994 | 4632 | 80,2 | 1145 | 19,8 | 5777 |
Bezüglich der konsumierten Substanz sind bei den Repressionsdaten kaum Geschlechtsunterschiede festzustellen. In bezug auf alle Verzeigten ist auch kein eindeutiger Trend der Geschlechterquote zu erkennen. Getrennt nach Substanz ergibt sich kein Trend bei den Heroinkonsumverzeigungen und ein sehr schwacher Trend zu steigenden Frauenanteilen bei den Kokainkonsumverzeigungen 1991 bis 1994. In absoluten Zahlen zeigt sich im Jahre 1994 bei den Anzeigen wegen Kokainkonsums eine Stagnation, bei den Heroinkonsumsanzeigen sogar einen Rückgang. Die rückläufige Tendenz setzt sich im Jahre 1995 fort.
4.3.4 Alter
Die Altersverteilungen der repressiv erfaßten Konsumierenden von harten, illegalen Drogen unterscheiden sich nach Bereich der Repression und Geschlecht. Die Grafik G4.3.4A zeigt die Altersverteilung der angezeigten Personen im Zeitraum 1990-1994.
G4.3.4A: Alter der jährlich wegen Heroin- oder Kokainkonsums angezeigten Personen, 1990-1993.
Zwar steigt das durchschnittliche Alter, doch die Altersverteilung bleibt über die Jahre weitgehend gleichförmig, nur die Fallzahlen steigen von Jahr zu Jahr beträchtlich. Dieser Anstieg erfolgt also nicht sehr altersspezifisch. Bei der Darstellung der Anzeigen nach Jahren und Geburtsjahrgängen zeigt sich der Zuwachs an Anzeigen in den jeweiligen Geburtskohorten (Grafik G4.3.4B).
1 Zu der Unterrepräsentation von Frauen im Repressionsbereich vgl. Estermann, J.: Kriminelle Karrieren von Gefängnisinsassen. Frankfurt/M u.a., 1986, S. 12ff.
2 Der Zuwachs der wegen Heroinkonsums angezeigten Personen hat sich wie folgt entwickelt:
Männer 90/91: 44,7%; 91/92: 28,3%; 92/93: 22,2% 93/94 -5,3%
Frauen 90/91: 25,5%; 91/92: 31,2%; 92/93: 19,0% 93/94 -4,1%
Insgesamt 90/91: 40,6%; 91/92: 28,8%; 92/93: 21,6% 93/94 -5,1%
3 Der Zuwachs der wegen Kokainkonsums angezeigten Personen hat sich wie folgt entwickelt:
Männer 90/91: 24,2%; 91/92 4,4%; 92/93: 29,3% 93/94 1,0%
Frauen 90/91: 9,1%; 91/92: 14,1%; 92/93: 30,1% 93/94 1,8%
Insgesamt 90/91: 21,0%; 91/92: 6,3%; 92/93: 29,5% 93/94 1,2%